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Das Abenteuer mit dem Pappkarton.  Arthur Conan Doyle
Buch. Das Abenteuer mit dem Pappkarton
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Bei der Auswahl einiger typischer Fälle, die die erstaunlichen mentalen Qualitäten meines Freundes Sherlock Holmes illustrieren sollen, bin ich bestrebt gewesen, diejenigen herauszusuchen, die der Sensationslust nicht allzuviel bieten, aber dazu dienen, seine großen Talente ins rechte Licht zu stellen. Natürlich ist es völlig unmöglich, Sensation von Kriminalität zu trennen, und so steht der Chronist immer vor einem Dilemma. Entweder muß er notwendige Teile seines Berichtes opfern - damit würde er aber einen falschen Eindruck des Problems erwecken - oder er benutzt das Material, das ihm der Zufall und nicht eigene Wahl beschert hat.

Nach diesem kurzen Hinweis möchte ich mich einem Fall zuwenden, über den ich mir Notizen gemacht habe und der aus einer merkwürdigen Kette von erschreckenden Ereignissen bestand.

Es war ein glühendheißer Tag im August. Die Baker Street glich einem Backofen. Die gle ißenden Sonnenstrahlen auf den gelben Steinen der gegenüberliegenden Häuserfront taten meinen Augen weh. Ich konnte kaum glauben, daß dies die gleichen Häuser waren, die im Winternebel einen so düsteren Eindruck auf mich machten. Wir hatten die Rolläden halb heruntergelassen.

Holmes lag zusammengerollt auf dem Sofa und las immer wieder einen Brief, der mit der Morgenpost gekommen war. Was mich betraf, war ich durch meinen Dienst in Indien Hitze gewöhnt und konnte sie besser vertragen als Kälte, und wenn das Thermometer auf neunzig Grad Fahrenheit kletterte, empfand ich es nicht als schlimm. Aber die Morgenzeitung war uninteressant. Das Parlament machte Sommerpause. Jeder hatte die Stadt verlassen.

Ich sehnte mich nach einer Waldlichtung oder einem Südseestrand. Meine Bankauszüge sahen jedoch so deprimierend aus, daß ich es für geraten hielt, einen Sommerurlaub aufzuschieben.

Meinen Freund interessieren weder das Landleben noch die See. Er liebt es, auf dem Sofa zu liegen, umgeben von den fünf Millionen dieser großen Stadt. Seine Ordner waren 42 immer in Reichweite, er blätterte darin, stets bereit, auf jedes ungelöste Rätsel eines möglichen Verbrechens einzugehen. Unter seinen vielen Interessensgebieten hatte Naturschwärmerei keinen Platz. Seine einzige Chance, von den Bösewichtern in der Stadt Abstand zu ne hmen und Landluft zu genießen, kam dann, wenn er einmal seinen Bruder auf dem Lande besuchte.

Holmes war zu sehr in seine Akten vertieft, um mit mir ein Gespräch anzufangen. So warf ich die ereignislose Zeitung fort, lehnte mich in meinen Sessel zurück und verfiel ins Träumen.

Plötzlich brach die Stimme meines Freundes in meine Gedanken ein:

»Sie haben recht, Watson«, sagte er. »Es ist wirklich grotesk, auf solche Weise einen Disput zu beenden.«

»Völlig grotesk! « rief ich aus. Dann merkte ich plötzlich, daß er ausgesprochen hatte, was sich gerade in meiner tiefsten Seele abspielte. Ich fuhr hoch und starrte ihn mit blankem Entsetzen an.

»Was soll das, Holmes? « rief ich. » Das übertrifft alles, was ich bisher erlebt habe.«

Er lachte herzlich über meine Erschütterung.

»Sie erinnern sich«, sagte er, »daß ich Ihnen vor einiger Zeit ein paar Abschnitte von Edgar Allan Poe vorlas. Da folgt ein scharfer Beobachter den unausgesprochenen Gedanken seines Gefährten. Sie, mein lieber Watson, behandelten die Sache als eine einfache tour-de-force des Autors. Ich habe Ihnen erzählt, daß ich dergleichen hin und wieder auch praktiziere, aber Sie glaubten mir nicht recht.«

»O nein. «

»Vielleicht haben Sie es nicht verbal ausgedrückt, aber Ihre Augenbrauen, mein lieber Watson, waren um so beredter. Ich beobachtete jetzt eben, wie Sie Ihre Zeitung wegwarfen und Ihren eigenen Gedanken nachhingen. Ich hatte das Glück, Ihnen zu folgen und Ihre Gedanken zu lesen. Schließlich bin ich in Ihre Gedankenkette eingebrochen, nur um Ihnen zu beweisen, daß ich Ihnen folgen konnte.«

Ich war damit noch nicht zufrieden. »In dem Beispiel, das Sie mir vorgelesen haben«, sagte ich, »zog der Autor seine Schlußfolgerung aus den Handlungen des Mannes, den er beobachtete.

Wenn ich mich recht erinnere, stolperte er über einen Steinhaufen, sah zu den Sternen hinauf und so weiter. Ich aber habe hier friedlich in meinem Sessel gesessen. Was für Hinweise habe ich Ihnen also gegeben?«

»Sie schätzen sich selbst zu gering ein. Der Gesichtsausdruck ist dem Menschen gegeben, um damit seine Emotionen auszudrücken. Ihre Mimik ist Ihr getreuer Diener.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie die Kette meiner Gedanken aus meinen Gesichtszügen herausgelesen haben?«

»Ja, aus Ihren Zügen, aber mehr noch aus Ihren Augen. Vielleicht wissen Sie selber nicht mehr genau, was in Ihnen vorgegangen ist?«

»Nein, ich weiß es nicht.«

»Dann will ich es Ihnen erzählen. Als Sie die Zeitung fortwarfen - dadurch wurde ich auf Sie aufmerksam - saßen Sie etwa eine halbe Minute mit leerem Blick da. Dann richteten Sie Ihre Augen auf das erst neuerdings gerahmte Bild von General Gordon. Ich sah durch die Veränderung in Ihrem Gesicht, daß die Gedankenkette begonnen hatte. Aber Sie kamen nicht weit.

Ihre Augen blitzten hinüber zu dem noch ungerahmten Bild von Henry Ward Beecher, das oben auf Ihren Büchern steht. Dann haben Sie zur Wand hoch gesehen. Die Bedeutung war natürlich klar. Sie dachten daran, daß dies Bild, wenn es gerahmt wäre, den freien Platz neben Gordons Bild einnehmen könnte.«

»Sie sind mir wirklich wunderbar gefolgt«, sagte ich. »Soweit konnte ich kaum irren. Aber nun gingen Ihre Gedanken zurück zu Beecher und Sie sahen scharf hin, als wollten Sie sich die Züge fest einprägen. Schließlich hörten die Augenlider zu zucken auf, aber Sie sahen immer noch hinüber und Ihr Gesicht war gedankenvoll. Sie haben die Zwischenfälle in Beechers Karriere betrachtet. Das konnten Sie natürlich nicht tun, ohne an die Mission zu denken, die er wegen des Nordens in der Zeit des Bürgerkrieges unternahm. Ich erinnere mich noch, mit welch zwiespältigen Gefühlen und welch leidenschaftlichen Ausbrüchen er von unseren Leuten empfangen wurde. Sie selber haben sich damals sehr erregt. Sie konnten gar nicht an Beecher denken, ohne sich jenes Zwischenfalles zu erinnern. Einen Augenblick später wanderte ihr Blick von dem Bild fort. Ich glaubte, Ihre Gedanken seien nun bei dem Bürgerkrieg.

Aber Sie preßten die Lippen zusammen, Ihre Augen blitzten und Ihre Hände wurden zu Fäusten.

Da war mir klar, daß Sie an die Tapferkeit dachten, die beide Seiten in diesem verzweifelten Kampf gezeigt haben. Aber dann wurde Ihr Gesicht wieder traurig. Sie schüttelten den Kopf. Sie dachten über die Schrecken des Krieges nach und die vielen nutzlos geopferten Menschenleben. Ihre Hand stahl sich zu ihrer alten Wunde, und ein Lächeln bebte auf Ihren Lippen. Die Lächerlichkeit, auf diese Art internationale Fragen zu lösen, hatte sich Ihnen aufgezwungen.

An dieser Stelle stimmte ich mit Ihnen überein. Es ist ja auch grotesk. Und ich freue mich, daß meine Folgerungen richtig gewesen sind. «

»Absolut!« sagte ich. »Und nun, da Sie es mir erklärt haben, bin ich immer noch so erstaunt wie vorher, das muß ich wirklich sagen. «

»Es war sehr oberflächlich, mein lieber Watson, das versichere ich Ihnen. Ich würde mich nicht so in Ihre Gedankenwelt gedrängt haben, wenn Sie mir neulich mehr Glauben geschenkt hätten. Aber ich habe hier jetzt ein kleines Problem an der Hand, dessen Lösung schwieriger scheint als mein kleiner Exkurs in Gedankenlesen. Sind Sie, vorhin, als Sie die Zeitung lasen, auf einen kleinen Artikel gestoßen, der sich auf den erstaunlichen Inhalt eines Päckchens bezieht, welches durch die Post an Miß Cushing, Cross Street in Croydon, geschickt wurde? «

»Nein, davon habe ich nichts gelesen.«

»Ah! Dann müssen Sie ihn übersehen haben. Werfen Sie mir mal das Blatt 'rüber. Hier ist es unter der Finanzrubrik. Vielleicht sind Sie so freundlich und lesen ihn mal laut vor.«

Ich nahm das Blatt, das er mir zurückgeworfen hatte, und las den bezeichneten Artikel. Er war überschrieben: »Ein grausiges Paket. - Miß Susan Cushing, wohnhaft in der Cross Street in Croydon, ist das Opfer einer Handlungsweise geworden, die besonders empörend ist, wenn sie als >Scherz< gedacht war, falls sich nicht herausstellen sollte, daß dem Vorfall eine noch wesentlich schlimmere Bedeutung zukommt. Um zwei Uhr gestern Nachmittag wurde vom Briefträger ein verschnürtes und in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen überbracht. Darin befand sich ein Pappkarton, der mit grobem Salz gefüllt war. Beim Ausleeren fand Miß Cushing zu ihrem Entsetzen zwei menschliche Ohren, die offensichtlich frisch abgetrennt worden waren. Der Karton ist am Morgen zuvor bei der Paketpost in Belfast aufgegeben wo rden.

Es gibt keinen Hinweis auf den Absender, und die Affaire ist um so merkwürdiger, als Miß Cushing, eine unverheiratete Dame von fünfzig, ein sehr zurückgezogenes Leben führt und so wenig Bekanntschaften und briefliche Verbindungen unterhält, daß es ein sehr seltenes Ereignis ist, wenn sie Post bekommt. Vor einigen Jahren allerdings, als sie in Penge ihren Wohnsitz hatte, hat sie Zimmer an drei junge Medizinstudenten vermietet, denen sie aber auf Grund ihrer lauten und unordentlichen Gewohnheiten wieder kündigen mußte. Die Polizei ist der Meinung, daß diese empörende Handlung an Miß Cushing durch diese jungen Leute ve rübt worden sein kann, die Groll gegen sie hegten und hofften, sie durch die Zusendung dieser Relikte aus dem Sezierraum zu erschrecken. Diese Ansicht wird durch die Tatsache gestützt, daß einer dieser Studenten aus Nordirland kam und zwar nach bestem Wissen von Miß Cushing aus Belfast. Die Nachforschungen laufen inzwischen auf vollen Touren unter der Le itung von Mr. Lestrade, eines unserer tüchtigsten Kriminalbeamten. «

»Soweit der >Daily Chronicle<«, sagte Holmes, als ich zu Ende gelesen hatte. »Nun zu unserem Freund Lestrade. Ich habe heute morgen folgende Nachricht von ihm bekommen:

>Ich glaube, daß dieser Fall etwas für Sie ist. Wir hoffen zwar, die Sache aufzuklären, haben aber unsere Schwierigkeiten. Natürlich haben wir an das Postbüro in Belfast telegraphiert, aber an dem Tag sind eine größere Menge Päckchen abgegangen und sie haben keine Möglichkeit, dieses eine zu identifizieren, erinnern sich auch nicht an den Absender. Der Pappkarton ist schon einmal benutzt worden und enthielt vorher ein halbes Pfund Tabak. Aber das hilft uns auch nicht weiter. Die Medizinstudenten-Theorie erscheint mir im Moment noch die plausibelste, aber wenn Sie ein paar Stunden Zeit hätten, wäre ich glücklich, Sie hier draußen zu sehen. Ich bin den ganzen Tag auf der Polizeistation oder in besagtem Hause.< Was sagen Sie dazu, Watson? Können Sie sich trotz der Hitze erheben und mit mir hinunter nach Croydon eilen, wegen eines Falles für Ihre Annalen? Ist das nicht eine Chance?«

»Ich sehnte mich schon danach, irgend etwas zu tun.«

»Das sollen Sie haben. Klingeln Sie nach Mrs. Hudson. Sagen Sie, sie soll eine Droschke bestellen. Ich bin in einem Moment zurück, will nur eben mich anziehen und mein Zigarrenetui füllen. «

Ein Regenschauer fiel, als wir im Zug saßen, und die Hitze war in Croyden weit weniger drückend als in der Stadt. Holmes hatte ein Telegramm abgesandt, so daß uns Lestrade, wie immer drahtig, flink und wie ein Spürhund umherstöbernd, an der Bahnstation erwartete. Ein Gang von fünf Minuten brachte uns zur Cross Street, wo Miß Cushing wohnte.

Es war eine sehr lange Straße, mit zweistöckigen Ziegelsteinhäusern, alle hübsch und ordentlich mit geweißten Steinstufen vor der Haustür. Frauen mit gestärkten Schürzen standen in kleinen Gruppen zusammen und klatschten. Etwa in der Mitte der Häuserzeile hielt Lestrade und klopfte. Ein kleines Dienstmädchen öffnete uns und führte uns in das vordere Zimmer, in dem auch Miß Cushing saß. Sie war eine Frau mit friedlichem Gesicht und großen, sanften Augen. Die krausen Haare waren in großen, weichen Wellen über beide Seiten der Schläfen gelegt. Ein Sesselschoner lag auf ihrem Schoß und neben ihr auf einem Hocker stand ein Korb mit bunten Seidensträngen.

»Das schreckliche Zeug ist draußen im Schuppen«, sagte sie, als Lestrade eintrat. »Ich wünschte, Sie würden es mitnehmen.«

»Das werde ich auch tun, Miß Cushing. Ich habe es nur noch hiergelassen, bis mein Freund, Mr. Holmes, es sich in Ihrer Gegenwart angesehen hat. «

»Wieso in meiner Gegenwart, Sir? «

»Für den Fall, daß er Ihnen Fragen stellen möchte.«

»Was nützt es, mir Fragen zu stellen, wenn ich doch sage, daß ich absolut nichts weiß?«

»Ganz richtig, Madame«, sagte Holmes auf seine beschwichtigende Weise.

»Ich bin davon überzeugt, daß diese unangenehme Sache Ihnen schon genug Ärger bereitet hat. «

»Ja, Sir, das hat es wirklich. Ich bin eine ruhige Frau und führe ein zurückgezogenes Leben.

Es ist für mich etwas sehr Ungewöhnliches, meinen Namen in der Zeitung zu finden und Polizei im Haus zu haben. Ich will diese Dinge auch nicht hier im Zimmer haben, Mr. Lestrade.

Wenn Sie es sehen wollen, müssen Sie hinaus in den Schuppen gehen.«

Ein kleiner Schuppen stand in einem winzigen Garten hinter dem Haus. Lestrade ging hinein und kam mit einem gelben Pappkarton, einem Stück braunen Packpapiers und einem Bindfaden wieder heraus.

Im Garten stand eine Bank. Wir setzten uns alle darauf, während Holmes die Artikel, die Lestrade ihm gebracht hatte, einen nach dem anderen untersuchte.

»Der Bindfaden ist außerordentlich interessant«, bemerkte er, hielt ihn zum Licht hin und roch daran. »Was halten Sie von dem Bindfaden, Lestrade?«

»Er ist in Teer getaucht worden.«

»Genau das. Es ist ein Stückchen geteerten Bandes. Sie haben es sicherlich auch bemerkt, daß Miß Cushing dieses Band mit der Schere durchgeschnitten hat. Man sieht es an dem doppelt ausgefransten Ende. Das ist wichtig.«

»Ich kann daran nichts Wichtiges sehen«, sagte Lestrade. »Die Wichtigkeit liegt darin, daß der Knoten intakt geblieben ist und daß dieser Knoten seltsame Charakterzüge aufweist.«

»Er wurde hübsch ordentlich gemacht. Ich habe mir darüber bereits eine Notiz gemacht«, sagte Lestrade selbstzufrieden. »Dann lassen wir den Bindfaden jetzt mal«, sagte Holmes lächelnd.

»Nun wollen wir uns das Einwickelpapier des Päckchens einmal ansehen. Braunes Packpapier. Es riecht deutlich nach Kaffee. Was, Sie haben es nicht bemerkt? Ich finde, man riecht es sehr deutlich. Die Adresse wurde in Blockbuchstaben geschrieben, aber diese sind ziemlich krakelig: >Miß S. Cushing, Cross Street, Croydon<, geschrieben mit einer breiten Feder und mit sehr billiger Tinte. Das Wort Croyden war zunächst mit einem >i< geschrieben, das dann aber in ein >y< umgewandelt wurde. Der Absender des Päckchens ist ein Mann, denn die Druckschrift ist deutlich männlich. Begrenzte Schulbildung, die Stadt Croydon ist ihm fremd. So weit, so gut! Der Karton ist gelb, Halbpfund-Tabakpaket, mit nichts Interessanterem als zwei Daumenabdrücken in der linken unteren Ecke. Der Karton ist mit grobem Salz gefüllt, von einer Qualität, wie man sie beim Einpökeln benutzt. Und mittendrin befindet sich die merkwürdige Anlage. «

Während er sprach, hatte er die beiden Ohren aus dem Karton genommen. Er hatte sich ein Brett über die Knie gelegt, den Päckcheninhalt darauf ausgebreitet und studierte ihn nun sorgfältig.

Lestrade und ich saßen rechts und links von ihm, beugten uns vor und schauten abwechselnd auf die schrecklichen Relikte vor uns und in das aufmerksame, intelligente Gesicht meines Gefährten. Schließlich packte er alles wieder in den Karton zurück und saß schweigend da, ganz in Nachdenken versunken.

»Natürlich haben auch Sie festgestellt«, sagte er endlich, »daß es sich nicht um ein Ohrenpaar handelt.«

»Ja, das habe ich auch gesehen. Aber wenn es sich um den Scherz eines Medizinstudenten handelt, dann ist es gewiß leichter, zwei Einzelstücke, als ein Paar aus dem Anatomiesaal zu entwenden. «

»Gewiß, aber es handelt sich um keinen Scherz.« »Sind Sie sich dessen sicher?«

»Ein paar Fakten sprechen stark dagegen. Leichen im Anatomiesaal werden in eine Preservationslösung gelegt. An den Ohren ist keine Spur davon. Außerdem sind sie relativ frisch. Sie wurden mit einem stumpfen Instrument vom Körper getrennt. Ein Student hätte ein Sezie rmesser benutzt. Und wiederum, wenn ein Mediziner am Werk gewesen wäre, hätte er Karbol oder eine andere Lösung gewählt, gewiß aber kein grobes Pökelsalz. Ich wiederhole, es ha ndelt sich nicht um einen Scherz, sondern wir sind dabei, ein schwerwiegendes Verbrechen zu untersuchen.«

Ein Schauer durchfuhr mich bei den ernsten Worten meines Freundes, dessen Züge hart geworden waren. Dieses brutale Vorspiel schien seinen Schatten auf einen unerklärlichen Schrecken zu werfen, der im Hintergrund lauerte. Lestrade schüttelte jedoch seinen Kopf, wie ein Mann, der nur halb überzeugt ist.

»Sicherlich gibt es auch gegen die Scherz-Theorie einiges einzuwenden«, sagte er, »aber es gibt stärkere Gründe dafür als dagegen. Wir wissen, daß diese Frau in den letzten zwanzig Jahren ein sehr ruhiges und respektables Leben in Penge und hier geführt hat. In dieser Zeit ist sie kaum einmal einen Tag lang von zu Hause fortgewesen. Warum um alles in der Welt sollte ein Verbrecher ihr die Beweise seiner Schuld zuschicken? Und das besonders, da sie genauso wenig Ahnung hat wie wir, falls sie nicht eine ungeheuer geschickte Schauspielerin ist?«

»Das ist das Problem, das wir lösen müssen«, antwortete Holmes. »Ich gehe von der Anna hme aus, daß ich recht habe und daß ein Doppelmord geschehen ist. Eines dieser Ohren ist ein Frauenohr, klein und fein geformt und für einen Ohrring durchlöchert. Das andere gehörte einem Mann. Es ist sonnenverbrannt, verfärbt, aber ebenfalls für einen Ohrring durchlöchert.

Diese beiden Leute sind ganz sicher tot, oder ihr Geschick wäre längst bekannt geworden.

Heute ist Freitag. Das Päckchen wurde am Donnerstag morgen aufgegeben. Die Tragödie hat also am Mittwoch oder Dienstag stattgefunden, vielleicht auch eher. Wenn diese beiden Menschen ermordet worden sind, wer außer dem Mörder könnte diese Zeichen an Miß Cushing schicken? Wir können annehmen, daß der Absender dieses Päckchens der Mann ist, den wir suchen. Aber er muß einen zwingenden Grund gehabt haben, Miß Cushing dieses Päckchen zu schicken. Was für einen Grund hatte er? Er muß ihr haben sagen wollen, daß die Tat vollbracht ist! Oder er schickte es, um sie zu verletzen! Aber in diesem Fall weiß sie auch, wer es ist. Weiß sie es wirklich? Das bezweifele ich. Wenn sie es wußte, warum hätte sie dann die Polizei holen sollen? Sie hätte die Ohren vergraben können, und keiner hätte etwas erfahren.

Das hätte sie gemacht, wenn sie den Wunsch gehabt hätte, einen Verbrecher zu schützen. Aber wenn sie ihn nicht schützen wollte, hätte sie uns ja seinen Namen sagen können. Hier ist ein Wirrwarr, der erst aussortiert werden muß.« Er hatte mit hoher, schneller Stimme gesprochen und dabei auf den Gartenzaun gestarrt. Aber nun sprang er eilig auf und ging auf das Haus zu.

»Ich möchte Miß Cushing ein paar Fragen stellen«, sagte er. »Dann verabschiede ich mich jetzt«, sagte Lestrade. »Ich habe noch in einer anderen Sache zu tun. Ich glaube nicht, daß Miß Cushing mir etwas Neues erzählen kann. Sie finden mich auf der Polizeistation. «

»Auf unserm Weg zum Bahnhof schauen wir bei Ihnen hinein«, antwortete Holmes. Einen Augenblick später begaben er und ich uns in das vordere Zimmer, wo die stoische Frau immer noch ruhig an ihrem Sesselschoner arbeitete. Als wir hereinkamen, legte sie die Arbeit in den Schoß und sah uns mit ihren ehrlichen, blauen Augen forschend an.

»Sir, ich bin überzeugt, daß hier jemand einen Fehler gemacht hat. Gewiß war das Päckchen überhaupt nicht für mich bestimmt. Das habe ich den Herren von Scotland Yard mehrere Male gesagt, aber sie haben mich ausgelacht. Ich habe keine Feinde. Warum sollte jemand mir einen solchen Streich spielen? «

»Ich bin der gleichen Ansicht wie Sie, Miß Cushing«, sagte Holmes und nahm neben ihr Platz. »Ich glaube, daß es tatsächlich möglich ... «, er hielt inne. Ich war überrascht, sah mich um und fand, daß er sehr aufmerksam das Profil der Frau betrachtete. Überraschung und Befriedigung waren gleichzeitig auf seinem erwartungsvoll gespannten Gesicht zu sehen. Als sie sich allerdings umdrehte, um festzustellen, was das Schweigen zu bedeuten hatte, war er so ruhig und ernsthaft wie immer. Ich starrte nun selber auf ihr flachfrisiertes, kräuseliges Haar, ihr ordentliches Häubchen, die kleinen vergoldeten Ohrringe und ihre ruhigen Züge. Aber ich konnte keinen Grund für die Erregung meines Freundes entdecken.

»Ich habe ein paar Fragen an Sie...«

»Oh, mir langt die Fragerei!« rief Miß Cushing ungeduldig. »Nicht wahr, Sie haben zwei Schwestern?«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich habe das Portrait mit den drei jungen Damen auf ihrem Kamin entdeckt. Eine davon sind sicherlich Sie selber. Die anderen beiden Damen sehen Ihnen sehr ähnlich. Man kann die Verwandtschaft nicht übersehen.«

»Ja, sie haben ganz recht. Es sind meine Schwestern, Sarah und Mary. «

»Und daneben ist noch eine Photographie, aufgenommen in Liverpool, ihre jüngere Schwester in der Begleitung eines Mannes, der nach seiner Uniform zu urteilen, Steward ist. Die zwei waren zu dieser Zeit unverheiratet.«

»Sie sehen eine ganze Menge.«

»Das gehört zu meinem Beruf.«

»Na ja, Sie haben ja recht. Aber ein paar Tage später haben sie und Mr. Browner geheiratet.

Als das Foto gemacht wurde, war er bei der Südamerika-Linie. Aber er mochte sie so gerne, daß er es nicht ertragen konnte, sie so lange alleine zu lassen, und sich darum Arbeit auf den Liverpool-London Schiffen gesucht hat. «

»Ah, vielleicht auf der >Conqueror

»Nein, auf der >May Day<, jedenfalls, als ich das letzte Mal von ihm gehört habe. Jim ist einmal hierher gekommen und hat mich besucht. Das war aber, bevor er sein Versprechen gebrochen hat. Hinterher trank er ständig, wenn er an Land war. Alkohol machte ihn wild, wütend, und regelrecht verrückt. Ah! Das war ein schlimmer Tag, als er das erste Glas wieder in die Hand nahm. Erst hat er mich fallenlassen, dann hat er sich mit Sarah zerstritten und jetzt, da Mary nicht mehr schreibt, wissen wir nicht mehr, wie die Dinge bei ihnen stehen.«

Man konnte sehen, daß Miß Cushing an ein Thema geraten war, das ihr sehr am Herzen lag.

Wie die meisten Leute, die viel allein sind, war sie zunächst etwas schüchtern, wurde aber mit der Zeit immer gesprächiger. Sie erzählte uns eine Menge Einzelheiten über ihren Schwager, den Steward. Dann wanderten ihre Gedanken zu ihren früheren Mietern, den Medizinstudenten.

Sie gab uns einen langen Bericht von ihrem Fehlverhalten, zusammen mit Namen der Krankenhäuser, in denen sie arbeiteten. Holmes hörte sich aufmerksam alles an, und stellte nur ab und zu eine Frage.

»Ich möchte auf Ihre zweite Schwester Sarah zurückkommen. Es wundert mich, daß Sie nicht einen gemeinsamen Haushalt führen, da Sie doch beide unverheiratet geblieben sind.«

»Ah, Sie müßten einmal Sarahs Launen erleben, dann würden Sie sich nicht mehr wundern.

Ich habe es mit ihr versucht, als ich nach Croyden kam. Wir lebten eine Weile zusammen, bis wir uns vor zwei Monaten trennen mußten. Ich werde kein Wort gegen meine eigene Schwester sagen, aber unsere Sarah war immer leicht streitsüchtig und schwer zufrieden zu stellen.«

»Sagten Sie nicht, daß sie sich mit ihren Liverpooler Verwandten zerstritten hat? «

»Ja, und dabei gab es Zeiten, wo sie die besten Freunde waren. Sie zog sogar zu ihnen hinauf, um ihnen nahe zu sein. Sie lebte zusammen mit ihnen. Und nun hat sie nur noch harte Worte für Jim Browner. In den sechs Monaten, in denen sie bei mir gewohnt hat, konnte sie von nichts anderem reden, als von Jim Browners Trinken und seinem schlechten Benehmen. Vermutlich hat er sie erwischt, wie sie über andere herzog und hat ihr ein bißchen die Meinung gesagt, damit wird es wohl angefangen haben.«

»Vielen Dank, Miß Cushing«, sagte Holmes, stand auf und verbeugte sich. »Ihre Schwester Sarah lebt, das sagten Sie doch, in New Street, Wallington, nicht wahr? Auf Wiedersehen.

Und es tut mir aufrichtig leid, daß Sie in einen Fall hineingezogen worden sind, mit dem Sie, wie ich glaube, gar nichts zu tun haben.«

Eine Droschke kam vorüber als wir aus dem Haus traten, und Holmes winkte sie heran.

»Wie weit ist es nach Wallington?« fragte er.

»Nur etwa eine Meile, Sir.«

»Sehr gut. Steigen Sie ein, Watson. Wir müssen das Eisen schmieden, solange es noch heiß ist. So einfach der Fall auch aussieht, so gibt es in Verbindung damit doch einige sehr interessante Einzelheiten. Halten Sie doch bitte am Telegrafenamt, Kutscher, wenn wir vorbeikommen.«

Holmes sandte sein Telegramm ab. Den Rest der Fahrt saß er bequem zurückgelehnt auf seinem Sitz, den Hut über die Nase gezogen, um das Gesicht vor der Sonne zu schützen. Unser Kutscher brachte uns zu einem Haus, das dem, welches wir gerade verlassen hatten, nicht unähnlich war. Mein Gefährte bat ihn, zu warten. Er hatte schon den Klopfer in der Hand, als die Tür von innen geöffnet wurde. Ein ernster, schwarzgekleideter junger Mann mit einem sehr glänzenden Hut auf dem Kopf erschien.

»Ist Miß Cushing zu Hause?« fragte Holmes.

»Miß Sarah Cushing ist sehr krank«, sagte er. »Sie leidet seit gestern an einem Gehirnfieber von sehr ernstem Ausmaß. Ich bin ihr Arzt. Ich kann keine swegs die Verantwortung dafür übernehmen oder es erlauben, daß jemand sie besucht. Ich würde sagen, daß Sie in zehn Tagen oder so noch einmal wiederkommen.« Er zog seine Handschuhe an, zog die Tür hinter sich zu und marschierte die Straße hinunter.

»Was nicht geht, das geht nicht«, sagte Sherlock Holmes vergnügt.

»Vielleicht hätte sie Ihnen sowieso nicht viel sagen können.«

»Ich wollte gar nicht, daß sie mir viel sagt, ich wollte sie nur ansehen. Ich denke jedoch, daß ich weiß, was ich wissen wollte. Kutscher, fahren Sie uns in ein anständiges Hotel, damit wir erst einmal zu Mittag essen. Hinterher können wir ja Freund Lestrade auf der Polizeistation besuchen.«

Wir nahmen eine kleine, angenehme Mahlzeit ein. Während des Essens wollte Sherlock Ho lmes über nichts anderes als Violinen reden. Er erzählte mit großem Enthusiasmus, wie er seine eigene Stradivari erstanden hatte, die wenigstens fünfhundert Guineen wert war, und die er bei einem jüdischen Händler in der Tottenham Court Road für fünfundfünfzig Schillinge erhandelt hatte. Das brachte ihn zu Paganini. Wir saßen vor einer Flasche Weißwein und er erzählte mir von diesem außergewöhnlichen Mann eine Anekdote nach der anderen. Inzw ischen war es später Nachmittag geworden. Die heiße Sonnenglut hatte sich in sanften Abendschein verwandelt, als wir uns schließlich auf der Polizeistation einfanden. Lestrade erwartete uns an der Tür.

»Ein Telegramm für Sie, Mr. Holmes«, sagte er.

»Ah, das ist die Antwort«, sagte Holmes, riß es auf, überflog es und knüllte es in seine Tasche.

»Das wäre in Ordnung«, sagte er.

»Haben Sie etwas herausgefunden?«

»Ich habe alles herausgefunden.«

»Was!« Lestrade starrte ihn in großer Verwunderung an. »Sie machen Witze. «

»Noch nie in meinem Leben war ich ernster. Ein schockierendes Verbrechen ist verübt wo rden, und ich glaube, ich habe jedes Detail aufgedeckt.«

»Und wer ist der Verbrecher?«

Holmes schrieb ein paar Worte auf die Rückseite eine r seiner Visitenkarten und warf sie zu Lestrade hinüber.

»Das ist der Name«, sagte er. »Aber sie können bis frühestens morgen Abend keinen Haftbefehl erlassen. Ich würde es begrüßen, wenn Sie meinen Namen in Verbindung mit diesem Fall nicht erwähnen, weil ich mir einen Fall ausgesucht hätte, dessen Lösung mindestens ein paar Schwierigkeitsgrade höher liegt. Kommen Sie, Watson. « Zusammen verließen wir die Polizeistation.

Lestrade starrte immer noch mit erfreutem Gesicht auf die Karte, die Holmes ihm zugeworfen hatte.

»Dieser Fall«, sagte Holmes, als wir am Abend zigarrerauchend in unserer Wohnung in der Baker Street zusammensaßen und plauderten, »ist einer von denen, wo wir genötigt waren, das Pferd von hinten aufzuzäumen, nämlich von der Wirkung auf die Ursache zu schließen.

Ähnlich lagen die Fälle, die Sie unter den Titeln »Eine Studie in Scharlachrot« und »Im Ze ichen der Vier« beschrieben haben. Ich habe Lestrade geschrieben und ihn um weitere Details gebeten, die wir jetzt benötigen und die er nur bekomme n kann, wenn er den Mann verhaftet.

Das wird er ordentlich machen. Er hat zwar absolut keinen Verstand, aber er hält's fest wie eine Bulldogge, wenn er erst mal weiß, was er tun soll. In Wirklichkeit ist es seine Verbissenheit, die ihn an die Spitze von Scotland Yard gebracht hat.«

»Dann ist der Fall noch nicht abgeschlossen?« fragte ich. »In seinen Grundzügen kann man ihn wohl als abgeschlossen betrachten. Wir wissen, wer der Autor dieser abscheulichen Geschichte ist, wenn wir auch eines der Opfer noch nic ht kennen. Sie haben natürlich schon Ihren eigenen Schluß gezogen.«

»Ich nehme an, daß dieser Jim Browner, der Steward aus Liverpool, der Mann ist, den Sie verdächtigen. «

»Oh, der ist mehr als nur verdächtig. «

»Und doch kann ich nicht mehr als nur ein paar vage Hinweise wahrnehmen. «

»Im Gegenteil, meiner Meinung nach kann nichts klarer sein. Wir wollen die Hauptschritte einmal nachvollziehen. Wir sind an den Fall ohne das geringste Vorurteil herangegangen. Das ist immer ein Vorteil. Wir haben keine Theorien geformt. Wir waren einfach da und haben beobachtet und dann haben wir Schlüsse aus unseren Beobachtungen gezogen. Was haben wir zunächst gesehen? Eine zufriedene, respektable Dame, scheinbar ganz unschuldig und ohne Geheimnisse. Und wir sahen ein Portrait, das die Existenz zweier jüngerer Schwestern bewies.

Beim Anblick dieses Portraits kam mir der Gedanke, daß das Päckchen für eine ihrer Schwestern bestimmt sein könnte. Dem konnte man in aller Ruhe nachgehen, es würde sich zeigen, ob es zu beweisen war oder nicht. Dann, erinnern Sie sich, sind wir in den Garten gegangen und betrachteten den höchst seltsamen Inhalt dieses gelben Päckchens.

Der Bindfaden war von der Art, wie ihn Seeleute an Bord benutzen. Und sofort kam ein Hauch von See in unsere Untersuchung hinein. Dann entdeckte ich, daß der Knoten auf seemännische Weise gemacht worden war, daß man das Päckchen in einer Hafenstadt aufgegeben hatte und daß auch das männliche Ohr für einen Ohrring durchstochen war, was viel mehr bei Seeleuten als Landleuten üblich ist. Damit war klar, daß die Akteure dieser Tragödie unter der seefahrenden Klasse zu suchen waren.

Als ich dann die Adresse des Päckchens studierte, stellte ich fest, daß es an Miß S. Cushing gerichtet war. Nun, die älteste Schwester war natür lich Miß Cushing und wenn ihr Initial auch >S< war, so konnte es doch an die andere gerichtet sein. In dem Fall hätten wir unsere Untersuchung von einer ganz neuen Basis aus beginnen müssen. Ich ging also zurück in das Haus, um diese Frage zu klären. Ich war schon dabei, Miß Cushing zu erklären, daß sie leider Opfer eines Fehlers geworden war. Aber Sie erinnern sich, daß ich plötzlich innehielt. Tatsache war, daß ich gerade etwas gesehen hatte, das mich mit Überraschung erfüllte. Zur gleichen Zeit wurde das Feld unserer Nachforschungen enorm eingeengt.

Watson, als Mediziner wissen Sie, daß es am menschlichen Körper kein Glied gibt, das so unterschiedlich geformt sein kann, wie das Ohr. Jedes Ohr hat in der Regel seine ganz eigene Distinktion und unterscheidet sich von allen anderen. Im Anthropologischen Journal< vom letzten Jahr werden Sie zwei kurze Aufsätze aus meiner Feder über dieses Thema finden. Ich habe daher die Ohren mit dem Augen des Experten betrachtet und ihre anatomischen Besonderheiten in mich aufgenommen. Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als ich Miß Cushing ansah und entdeckte, daß ihr Ohr genau mit dem weiblichen Ohr übereinstimmte, das ich gerade untersucht hatte. Zufall kann es da nicht mehr geben. Da war das gleiche etwas kurze Ohrläppchen, die gleiche breite Kurve in dem oberen Rand des Ohrs, die gleiche Struktur der Muschel. Es waren die gleichen Merkmale, es hätte das gleiche Ohr sein können.

Natürlich sah ich auf einen Blick die enorme Bedeutung meiner Beobachtung. Es lag auf der Hand, daß das Opfer eine Blutsverwandte war und möglicherweise eine sehr nahe. Da begann ich, mit ihr über ihre Familie zu reden. Sie erinnern sich, daß sie uns sogleich einige überaus wertvolle Einzelheiten erzählte.

Erstens, der Name ihrer Schwester war Sarah und ihre Adresse war bis vor kurzem die gleiche gewesen, so daß es auf der Hand lag, daß hier ein Irrtum vorliegen konnte. Das Päckchen war in Wirklichkeit für jemand anders bestimmt. Wir erfuhren, daß dieser Steward mit der dritten Schwester verheiratet war, und daß er sich zu Zeiten recht gut mit Miß Sarah verstanden hatte.

ja, sie war sogar nach Liverpool gegangen, um in der Nähe der Browners zu sein. Aber ein Streit hatte sie getrennt. Dieser Streit muß für etliche Monate die Kommunikation unterbrochen haben, so daß Browner, als er dann Grund hatte, das Päckchen abzuschicken, es natürlich an die alte Adresse schickte.

Von nun an ordnete sich das Knäuel plötzlich auf die schönste Weise. Wir haben von der Existenz dieses Stewards erfahren und daß er ein impulsiver, leidenschaftlicher Mann ist. Denken Sie daran, daß er eine sicherlich viel bessere Stellung aufgab, um seiner Frau nahe zu sein. Außerdem schien er ab und zu stark zu trinken. Wir haben Grund zur Annahme, daß seine Frau ermordet worden ist und daß ein offensichtlich seefahrender Mann ebenfalls zur gle ichen Zeit umgebracht worden ist. Eifersucht bot sich natürlich gleich als Tatmotiv an. Und warum sollten die Belege dieser Tat an Miß Sarah Cushing gesandt werden? Möglicherweise weil sie, während sie in Liverpool wohnte, ihre Hand in dem Spiel gehabt hat, das zu der Tragödie geführt hat. Sie werden wissen, daß diese Schiffahrtslinie die Häfen Belfast, Dublin und Waterford anläuft, so daß, angenommen Browner habe Verbrechen begangen, er schon wieder an Bord seines Schiffes >May Day< war. Belfast wäre dann der erste Ort, von dem aus er sein schreckliches Päckchen abschicken konnte.

In diesem Stadium wäre auch eine zweite Lösung möglich gewesen. Obgleich ich sie für ausgesprochen unwahrscheinlich hielt, war ich entschlossen, dies zu klären, bevor ich weiter machte. Ein unglücklicher Liebhaber hätte Mr. und Mrs. Browner umbringen können. Dann hätte das männliche Ohr ihrem Mann gehört. Es gab zwar viele ernste Einwände gegen diese Theorie, aber denkbar war es schon. Ich habe deshalb ein Telegramm an meinen Freund Algar von der Liverpooler Polizei geschickt, um durch ihn zu erfahren, ob Mrs. Browner zu Hause sei und ob Browner mit der >May Day< unterwegs ist. Dann sind wir nach Wallington gefahren, um Miß Sarah zu besuchen.

Ich war neugierig darauf, zu sehen, ob auch sie das Familienohr hatte. Weiter hätte sie uns natürlich wichtige Informationen geben können, aber ich war mir nicht sehr sicher, daß sie das auch tun würde. Sie mußte von der Geschichte ge hört haben, denn ganz Croydon sprach davon, und sie allein würde gewußt haben, für wen das Päckchen bestimmt war. Wenn sie willig gewesen wäre, der Polizei zu helfen, hätte sie sich längst selber melden können. Es war jedoch unsere Pflicht, sie aufzusuchen, und so fuhren wir eben hin. Wir fanden heraus, daß die Nachricht von dem Päckchen - denn ihre Krankheit hatte zu der Zeit eingesetzt - einen solchen Eindruck auf sie gemacht hatte, daß sie ein Gehirnfieber bekam. Es war klarer denn je, daß sie die volle Bedeutung verstand, aber ebenso klar war, daß man wohl eine Weile zu warten hatte, um Unterstützung von ihr zu erhalten.

Aber wir benötigten ihre Hilfe auch nicht. Unsere Antwort erwartete uns in der Polizeistation.

Ich hatte Algar gebeten, sein Telegramm dorthin zu schicken. Nichts konnte aufschlußreicher sein. Mrs. Browners Haus war seit drei Tagen verschlossen. Die Nachbarn meinten, sie sei nach Süden gefahren, ihre Verwandten zu besuchen. Und in der Schiffsagentur wurde klargestellt, daß sich Browner an Bord der >May Day< befand. Ich habe mir ausgerechnet, daß sie morgen Abend wieder auf der Themse fällig ist. Wenn er dort ankommt, wird ihn der stumpfsinnige, aber resolute Lestrade empfangen. Danach werden wir wohl mit den restlichen Einzelheiten versorgt werden. «

Sherlock Holmes Erwartung wurde nicht enttäuscht. Zwei Tage später erhielt er einen dicken Briefumschlag, der eine kurze Notiz des Detektivs enthielt und dazu einen maschinengeschriebenen Bericht, der mehrere große Bögen füllte.

»Lestrade hat ihn wirklich gekriegt«, sagte Holmes und sah zu mir herüber, »vielleicht interessiert Sie, zu hören, was er schreibt.

Lieber Mr. Holmes!

In Übereinstimmung mit dem Plan, den wir gefaßt hatten, um unsere Theorien zu überprüfen, (das >wir< klingt ziemlich gut, nicht, Watson?) bin ich gestern um 6 Uhr abends zum Albert Dock gegangen und habe mich an Bord der S. S. May Day begeben, die zu der Liverpool, Dublin und London Paket-Dampfschiffahrts-Gesellschaft gehört. Auf meine Anfrage erfuhr ich, daß ein Steward mit Namen James Browner an Bord war und daß dieser sich während der Fahrt so außerordentlich aufgeführt habe, daß der Kapitän genötigt war, ihn zu entlassen. Ich ging zu ihm in seine Kabine. Dort fand ich ihn auf seiner Seetruhe sitzen, den Kopf in den Händen, hin und herschaukelnd. Er ist ein großer, kraftvoller Kerl, glattrasiert und sehr dunkel - Aldridge irgendwie ähnlich, der uns in der Scheinaffaire mit der Wäscherei geholfen hat. Er sprang auf, als er hörte, was ich von ihm wollte, und ich mußte meine Trillerpfeife an die Lippen bringen, um ein paar der Flußpolizisten zur Hilfe zu holen, die sich an der Ecke befanden.

Aber ihm schien nicht nach Kampf zu Mute zu sein. Er hielt mir einfach friedlich seine Hände hin. Wir haben ihn dann in die Zelle gesperrt. Auch seine Seekiste haben wir mitgenommen, denn wir dachten, wir fänden etwas, was ihn überführen könnte. Aber außer einem scharfen Messer, das alle Seeleute besitzen, war unsere Mühe umsonst. Allerdings benötigen wir auch keine weiteren Beweise, denn als er zur Station vor den Inspektor gebracht wurde, bat er darum, ein Geständnis ablegen zu dürfen. Das wurde natürlich von unserem Stenographen mitgeschrieben. Wir haben drei maschinengeschriebene Kopien, von denen ich eine beilege. Die Affaire hat sich als extrem einfach herausgestellt, so wie ich es mir von Anfang an gedacht habe. Aber ich bin Ihnen trotzdem sehr dankbar, daß Sie mir bei den Untersuchungen geholfen haben. Mit freundlichen Grüßen G. Lestrade< Hm, die Ermittlungen waren wirklich sehr einfach«, sagte Holmes, » aber ich glaube nicht, daß er es in diesem Licht sah, als wir ihn zuerst getroffen haben. Wollen wir jedoch sehen, was Jim Browner zu sagen hat. Dieses Geständnis wurde vor Inspektor Montgomery in der Shadwell Polizeistation abgegeben, und es hat den Vorteil, mündlich abgelegt worden zu sein.«

>Ob ich etwas zu sagen habe? Ja, ich habe sogar eine Menge zu sagen. Sie können mich hä ngen, oder sie können mich in Ruhe lassen. Ich kann Ihnen sagen, daß ich keinen Augenblick geschlafen habe, seit ich es getan habe und ich glaube auch nicht, daß ich je wieder schlafen werde, bis ich ganz hin bin. Manchmal ist es sein Gesicht, aber meistens ihrs. Einen von beiden habe ich ständig vor Augen. Er sieht ärgerlich und schwarz aus, aber ihr Gesicht wirkt irgendwie, als wenn sie überrascht wäre. Ach, das weiße Lämmchen! Sie wird wohl überrascht gewesen sein, als sie Mord im Gesicht dessen sah, der sie nie anders als in Liebe angesehen hatte.

Aber es war Sarahs Schuld, und der Fluch eines gebrochenen Mannes möge auf sie herabkommen.

Möge ihr das Blut in den Adern verfaulen! Ich möchte mich damit nicht freisprechen.

Ich weiß, daß ich wieder zu trinken angefangen habe, Biest, das ich war. Aber sie würde es mir vergeben haben, sie hätte zu mir gehalten, wie das Tau zum Mast. Denn Sarah Cushing liebte mich - das ist die Wurzel von allem - sie liebte mich, bis ihre Liebe sich in giftigen Haß verwandelte. Das geschah, als sie merkte, daß ich mehr für die Fußspur meiner Frau im Sand übrig hatte, als von ihr als Ganzes, Leib und Seele eingeschlossen.

Sie sind zusammen drei Schwestern. Die Ältere ist einfach eine gute Frau, die zweite ein Te ufel und die dritte ein Engel. Sarah war dreiunddreißig und Mary neunundzwanzig, als ich sie heiratete. Wir waren so glücklich, als wir unseren gemeinsamen Haushalt einrichteten. Und in ganz Liverpool gibt es keine bessere Frau als meine Mary. Wir haben Sarah für eine Woche zu uns eingeladen. Aus der einen Woche wurden Monate und eine Sache kam zu der anderen, bis sie ganz zu unserm Haushalt gehörte.

Ich verdiente damals gut und wir sparten ein bißchen Geld. Alles war hell und klar, wie ein neuer Dollar. Mein Gott, wer hätte damals gedacht, daß es soweit kommen könnte? Wer würde sich das haben träumen lassen?

Ich war sehr oft an den Wochenenden zu Hause. Und manchmal, wenn wir lange Zeit zum Löschen und Laden brauchten, war ich die ganze Woche zu Hause. Und in dieser Zeit war ich viel mit meiner Schwägerin Sarah zusammen. Sie war eine schöne, große Frau, schwarz, fix und feurig. Sie hatte eine stolze Art, ihren Kopf zu halten und ihre Augen blitzten wie Feue rfunken.

Aber wenn meine kleine Mary da war, dann hatte ich sie vergessen, und das schwöre ich und hoffe auf Gottes Gnade.

Manchmal hatte ich das Gefühl, daß sie gerne mit mir alle ine gewesen wäre. Sie versuchte, mich zu Spaziergängen zu überreden, aber ich habe mir nie etwas dabei gedacht. Aber eines Abends wurden mir die Augen geöffnet. Ich kam vom Schiff und fand, daß Mary ausgega ngen, Sarah aber zu Hause war. »Wo ist Mary? « fragte ich. » Oh, sie ist gegangen, um ein paar Rechnungen zu bezahlen.« Ich war ungeduldig und ging im Zimmer auf und ab. »Kannst du nicht einmal fünf Minuten ohne Mary glücklich sein, Jim?« fragte sie mich. »Es ist wirklich kein Kompliment für mich, wenn du nicht einmal für eine kurze Weile mit meiner Gesellschaft zufrieden sein kannst.«

»Ist schon gut, mein Mädchen«, sagte ich und streckte ihr freundlich meine Hand entgegen.

Aber sie nahm sie im gleichen Augenblick in beide Hände, und sie brannten, als wenn sie Fieber hätte. Ich sah ihr in die Augen und begriff alles. Es war nicht nötig, daß sie etwas sagte.

Auch ich brauchte nichts zu sagen. Ich krauste die Stirn und entzog ihr meine Hand. Einen Augenblick stand sie schweigend neben mir. Dann begann sie, meine Schulter zu streicheln.

»Fall nicht um, alter Jim«, sagte sie mit spöttischem Gelächter und lief aus dem Zimmer.

Nun, von diesem Augenblick haßte Sarah mich von ganzem Herzen und sie ist eine Frau, die sich aufs Hassen versteht. Ich war ein Narr, es zuzulassen, daß sie weiterhin bei uns wohnte - ein ganz idiotischer Narr! - Ich sagte kein Wort zu Mary, denn ich wußte, daß es sie traurig machen würde. Das Leben ging weiter, als wenn nichts geschehen wäre. Nach einiger Zeit fand ich, daß Mary sich verändert hatte. Früher war sie so vertrauensvoll und unschuldig gewesen, aber nun wurde sie seltsam und argwöhnisch. Sie wollte wissen, wo ich gewesen war und was ich getan hatte, von wem meine Briefe waren, die ich in der Tasche hatte und tausend solcher Unsinnigkeiten. Von Tag zu Tag wurde sie argwöhnischer und nervöser. Wir stritten uns endlos um Kleinigkeiten. Ich verstand nicht, was ablief. Sarah ging mir nun aus dem Weg, aber sie und Mary waren unzertrennlich. Jetzt kann ich wohl sehen, wie sie ein Komplott geschmiedet und geplant hat und langsam und bewußt meine Frau gegen mich eingenommen hat. Aber ich war blind wie ein Maulwurf und begriff nichts. Dann fing ich wieder zu trinken an. Ich weiß, daß ich niemals wieder getrunken hätte, wenn Mary so wie immer gewesen wäre. Jetzt hatte sie wenigstens Grund, mich zu verabscheuen. Der Riß zwischen uns wurde größer und größer. Dann tauchte Alec Fairbairn auf und die Dinge wurden noch tausendmal schwärzer.

Zuerst kam er ins Haus, um Sarah zu besuchen, aber dann kam er unseretwegen. Er hatte eine gewinnende Art und freundete sich schnell mit Leuten an. Er war ein schmucker Kerl, und hatte die halbe Welt gesehen und konnte reden von dem, was er gesehen hatte. Er war ein guter Gesellschafter, das kann ich nicht abstreiten. Für einen Seemann hatte er eine sehr höfliche Art. Ich glaube, es hat für ihn auch schon bessere Zeiten gegeben. Einen Monat lang war er sehr oft bei uns, und niemals habe ich daran gedacht, daß seine sanfte Tour uns etwas anhaben könnte. Irgendwie wurde ich aber doch argwöhnisch. Von dem Tag an war mein Friede für immer dahin.

Es war eigentlich nur eine kleine Sache. Ich war unerwartet ins Wohnzimmer gekommen. Als ich durch die Tür kam, lag ein Willkommenslächeln auf dem Gesicht meiner Frau. Aber als sie sah, daß ich es war, verschwand das Lächeln aus ihrem Gesicht und sie wandte sich mit einem enttäuschten Blick ab. Das genügte mir. Sie hatte Alex Fairbairns Schritt mit meinem verwechselt. Wenn er damals in der Nähe gewesen wäre, hätte ich ihn gleich umgebracht, denn ich bin immer schon ein Verrückter gewesen, wenn mein Zorn erst mal wach war. Mary sah das teuflische Feuer in meinen Augen. Sie lief mir in die Arme. »Nicht Jim, tu's nicht!«

sagte sie. »Wo ist Sarah?«, fragte ich. »In der Küche«, sagte sie. »Sarah«, sagte ich, als ich in die Küche kam, »dieser Fairbairns kommt mir nicht wieder ins Haus!«

»Warum nicht«, sagte sie.

»Weil ich es so will.«

»Oh!« sagte sie, »wenn meine Freunde nicht gut genug für dieses Haus sind, dann kann ich ja gehen.«

»Du kannst tun, was du willst«, sagte ich, »aber wenn Fairbairn hier wieder auftaucht, dann schick ich dir eines seiner Ohren zum Andenken.« Mein Gesicht muß ihr wohl einen Schrecken eingejagt haben, glaube ich, denn sie antwortete mir mit keinem Wort und noch am gleichen Abend hat sie mein Haus verlassen.

Ich weiß nicht, ob sich die Frau das, was dann kam, als echte Teufelei ausgedacht hat oder ob sie meinte, sie könne mich gegen meine Frau einnehmen, indem sie sie verführte, fremdzugehen.

Jedenfalls mietete sie ein Haus, nur zwei Straßen von unserem entfernt, und vermietete an Seeleute. Fairbairn wohnte dort und Mary ging hin und trank Tee mit ihrer Schwester und mit ihm. Wie oft sie dort war, weiß ich nicht. Eines Tages bin ich ihr jedoch gefolgt. Als ich zur Tür hereinkam, entkam Fairbairn durch die Hintertür und entfloh über die Gartenmauer wie ein feiges Stinktier, das er auch war. Ich fluchte und schwor meiner Frau, daß ich sie umbringen würde, wenn ich sie noch einmal mit ihm zusammensähe. Ich habe sie mit nach Hause genommen. Sie weinte und zitterte und war weiß wie ein Blatt Papier. Inzwischen gab es zwischen uns auch nicht die Spur von Liebe mehr. Ich sah wohl, wie sie mich haßte und fürchtete. Und dieser Gedanke trieb mich in den Alkohol, denn sie verachtete mich auch deswegen.

Sarah mußte einsehen, daß sie in Liverpool ihren Lebensunterhalt nicht verdienen konnte. So ging sie zurück, so viel ich weiß, um bei ihrer Schwester in Croydon zu wohnen. Zu Hause gingen die Dinge so weiter. Und dann kam die letzte Woche und all das Elend und der Ruin.

Es war so: Wir waren mit der May Day gute sieben Tage unterwegs gewesen. Aber ein Bie rfaß hatte sich gelöst und einigen Schaden verursacht, so daß wir zwölf Stunden im Hafen liegen mußten. Ich ging von Bord und kam nach Hause, dachte noch, daß ich meine Frau überraschen wollte und hoffte, daß sie sich freuen würde, mich so bald wiederzusehen. Dieser Gedanke war in meinem Kopf, als ich in meine Straße einbog. In dem Augenblick kam ein Wagen vorbeigefahren und drinnen saßen, Seite an Seite, Fairbairn und sie, redend und lachend, ohne einen Gedanken an mich zu verschwenden, der auf dem Fußweg stand und ihnen nachsah.

Ich erzähle Ihnen, und ich gebe mein Ehrenwort darauf, daß ich von dem Augenblick an nicht mehr Herr über mich selber war. Wenn ich zurückdenke, ist alles wie ein unwirklicher Traum.

Ich hatte in der letzten Zeit sehr viel getrunken. Und beides zusammen hatte mich um den Verstand gebracht. Irgend etwas klopfte beständig in meinem Kopf, wie ein Schmiedeha mmer, aber an dem Morgen meinte ich, sämtliche Niagarafälle in meinen Ohren toben zu hören.

Nun, ich machte mich auf die Socken und lief hinter dem Wagen her. Ich hatte einen schweren Eichenstock in meiner Hand und ich kann Ihnen sagen, ich habe rot gesehe n. Aber als ich lief, wurde ich auch schlauer. Ich blieb ein bißchen zurück, damit sie micht nicht sehen sollten.

Am Bahnhof stiegen sie aus. Am Fahrkartenschalter war eine lange Schlange, so konnte ich ziemlich nahe herankommen, ohne gesehen zu werden. Sie nahmen Fahrkarten nach New Brighton. Das tat ich auch, aber ich stieg drei Wagen hinter ihnen ein. Als wir dort waren, spazierten sie die Promenade hinunter und ich war niemals mehr als hundert Meter von ihnen entfernt. Schließlich mieteten sie sich ein Boot und fingen an zu rudern, denn es war ein sehr heißer Tag und sie dachten wohl, auf dem Wasser sei es kühler.

Es war grad, als hätten sie sich in meine Hand gegeben. Es war ein bißchen neblig, man konnte keine hundert Meter weit sehen. Auch ich mietete mir ein Boot und ruderte hinter ihnen her. Ich sah, wie ihr Boot schlingerte, aber sie waren fast so schnell wie ich, und sie müssen wohl eine Meile vom Strand entfernt gewesen sein, bevor ich sie einholte. Der leichte Nebel war wie ein Vorhang um uns drei herum. Oh Gott, niemals werde ich ihre Gesichter vergessen, als sie entdeckten, wer so dicht hinter ihnen herruderte. Sie schrie laut. Er fluchte wie ein Verrückter und schlug mit dem Ruder nach mir, denn er muß meinen mörderischen Blick wohl gesehen haben. Ich kam an ihnen vorbei und schlug einmal zu. Sein Schädel zerkrachte wie eine Eierschale. Verrückt, wie ich war, hätte ich sie gerne verschont, aber sie schrie nach ihm und nannte ihn »Alec«. Da hatte ich schon wieder zugeschlagen und sie lag ausgestreckt neben ihm. Ich war wie ein Raubtier, das Blut geleckt hat. Wenn Sarah hier gewesen wäre, mein Gott, sie hätte ihnen folgen müssen. Ich riß mein Messer heraus und... na ja, es ist genug.

Ich habe genug gesagt. Es machte mir irgendwie wilde Freude, zu denken, was Sarah wohl fühlen mochte, wenn sie dieses Ergebnis zu sehen bekam, das ihre Einmischung ihr gebracht hatte. Dann habe ich die Leichen an das Boot gebunden, schlug eine Planke ein und sah zu, bis es gesunken war. Ich wußte sehr gut, daß der Eigentümer denken mußte, daß sie im Nebel ihren Weg verloren hatten und hinaus in die See getrieben worden sind. Ich habe mich etwas gesäubert und ruderte zurück ans Land. Dann bin ich wieder an Bord gegangen und kein Mensch hatte einen Verdacht gegen mich. In der Nacht habe ich das Päckchen für Sarah Cushing fertig gemacht und am nächsten Tag von Belfast abgeschickt.

Da haben Sie die ganze Wahrheit. Sie können mich aufhängen oder mit mir machen, was Sie wollen, aber mehr als ich gestraft worden bin, können Sie mich nicht mehr strafen. Ich kann meine Augen nicht schließen, denn dann sehe ich diese beiden Gesichter wieder. Sie starren mich an, wie sie mich angestarrt haben, als ich durch den Nebel brach. Ich habe sie schnell getötet, aber sie bringen mich langsam um. Und wenn ich das noch eine Nacht erleben muß, dann bin ich morgen früh entweder total durchgedreht oder tot. Sir, Sie wollen mich doch wohl nicht allein in die Zelle sperren? Um Gottes willen, bitte tun Sie das nicht. Und möge der Himmel Ihnen vergelten, was Sie jetzt mit mir machen. «

»Was hat das zu bedeuten, Watson?« fragte Holmes feierlich ernst, als er die Bögen hinlegte.

»Wem ist mit diesem Teufelskreis von Traurigkeit, Gewalt und Furcht gedient? Es muß doch einen Sinn geben, oder das ganze Universum wird vom Zufall regiert. Und das ist unausdenkbar.

Aber wo steckt der Sinn? Da steht ein großes, ewiges Problem, das die menschliche Rasse weniger denn je gelöst hat.«

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